Optimal kommunizieren heißt: Die Bedürfnisse des anderen nicht mißachten
Es muß wohl kaum bewiesen werden, daß uns ein Gesprächspartner, der unsere Bedürfnisse anspricht, lieber ist, als einer, dem es nur gilt, seine Bedürfnisse zu befriedigen.
Beobachten Sie Ihre eigene Reaktion auf Situation 1 und 2:
Situation I
Sylvia: Du hör mal, Bert, was mir heute passiert ist! Also, ich gehe da ins Büro meines Chefs, und da sagt er mir doch … Aber du hörst mir ja gar nicht zu?!
Situation II
Sylvia: Du, Bert, ich hätte da gerne mal deine Meinung in einer Sache. Hast du ’n Moment Zeit? Bert: Schieß los.
Von welcher Situation fühlen Sie sich mehr angesprochen? Natürlich reagiert Bert »besser« in Situation 2, denn hier hat Sylvia:
1. seine (Berts) Bedürfnisse angesprochen.
Denn: Wenn seine Meinung gefragt ist, so bedeutet die indirekte Nachricht ja: »Du bist wichtig«, da uns die Meinung von Leuten, die wir für unwesentlich halten, nicht sonderlich interessiert. Damit spricht sie Berts Bedürfnis nach Anerkennung an.
2. gefragt, ob er einen Moment Zeit hätte.
Dies bedeutet, daß er selbst die Entscheidung treffen konnte, ihr zuzuhören. Damit verhindert sie, daß er sich »überrannt« fühlt.
Sie sehen also, wie dieselbe Nachricht einmal in Form von guter, dann in Form von schlechter Kommunikation weitergegeben werden kann.
Um die Bedürfnisse des anderen beachten zu können, muß ich sie natürlich kennen. Und um sie zu kennen, muß ich mich mit ihnen auseinandersetzen!
Übung
Erstellen Sie eine Liste menschlicher Bedürfnisse. Denken Sie dabei nicht nur an Ihre eigenen, sondern auch an die anderer. Wenn Sie z. B. ein Mensch sind, der dem Status wenig Gewicht beimißt, so wissen Sie doch, daß manche Leute ein sehr starkes Geltungsbedürfnisbesitzen. Denken Sie auch an Grundbedürfnisse (Nahrung, Schlaf etc.) sowie an die sogenannten »höheren Bedürfnisse« des Menschen; an das Bedürfnis, gute Musik zu hören oder ein »gutes« Buch zu lesen. (Erst wenn Sie auf mehr als 15 Bedürfnisse gekommen sind, sehen Sie sich die untenstehende Liste an.)
Die folgende Liste wurde von einem Seminarteilnehmer innerhalb von ca. 10 Minuten erstellt. Sie ist natürlich noch lange nicht vollständig. Schlafen, trinken, gute Musik hören, atmen, lesen, laufen, spielen, lernen, tanzen, Liebe erhalten, Liebe geben, verdauen, arbeiten, sich sicher fühlen, kommunizieren, Hobbies, Freizeitbeschäftigung, Verantwortung, Status, Wärme, Freude, Sex, Geltung, persönlicher Besitz, Zeit, um alleine zu sein, sich verstanden fühlen, Anerkennung, Informationen besitzen.
(Mit freundlicher Genehmigung von LUDWIG HEGGENSTALLER.)
Anhand dieses Denk-Modells erkennen wir zweierlei:
- Alle menschlichen Bedürfnisse lassen sich in fünf Stufen gliedern. Jede Stufe beschreibt eine Kategorie von Bedürfnissen, deren Nicht- Befriedigung jedoch immer ein Defizit herbeiführt.
- Die »oberen« Stufen können nur so lange realisiert werden, wie die Basis weiterbesteht.
Werden einem Menschen die »unteren« Stufen weggezogen, so interessieren ihn die Bedürfnisse der oberen Stufe erst wieder, wenn er das Fundament neu errichtet hat.
Um zu sehen, wie sehr wir von der Basis der unteren Stufen abhängen, folgendes Beispiel:
Herr Dr. Ford, Wissenschaftler, hält sich überwiegend in den »oberen« Stufen auf: Er hat die sichere Basis erarbeitet, so daß er sich heute überwiegend um die Absicherung seiner Ich-Bedürfnisse kümmert. Außerdem arbeitet er an seiner Selbst-Verwirklichung (s. u.). Nun fliegt Dr. Ford zu einem Kongreß und erlebt eine Notlandung. Sofort wandert sein Interesse von der These, die er während des Fluges gelesen hat, zu den Stufen 1 und 2. Seine erste Frage, nachdem geklärt ist, daß alle überlebten: Wieviel Nahrungsmittel haben wir? Seine zweite Frage: Wie steht es mit Wasser?
Nachdem geklärt ist, daß die Nahrungsmittel reichen, da sowohl Vorräte vorhanden als auch kleines Wild erlegt werden kann, stellt man fest, daß das Wasser aus einem Bach trinkbar ist. Nun wendet Dr. Ford sich den Sicherheitsbedürfnissen zu: Wie können wir uns vor Sonne und Regen schützen? Man errichtet also ein »Dach« aus den Rettungsbooten, die im Flugzeug sind. Danach wird die dritte Stufe interessant: Dr. Ford stellt fest, daß einige Mitreisende Intellektuelle sind, zu denen er sich mehr »hingezogen« fühlt als zu den anderen. Jetzt bilden sich also kleine Cliquen, womit die Zugehörigkeitsbe- dürfnisse (auch soziale Bedürfnisse genannt) befriedigt werden. Und nun vertreibt sich Dr. Ford einen Teil seiner Zeit mit seiner These, weil erst jetzt die Bedürfnisse der 4. Stufe wieder interessant geworden sind. Wollen wir also jede Bedürfnisstufe kurz beleuchten und sofort den Bezug zur Praxis herstellen:
Die 1. Stufe
Denken Sie einmal an den entwicklungsgeschichtlichen Beginn der Menschheit:
Zuerst war der Mensch vornehmlich damit beschäftigt, die Bedürfnisse der 1. Stufe zu erfüllen. Er verbrachte seine Tage damit, Nahrung zu verschaffen, seine Nächte verbrachte er mit Schlafen. (Zur 1. Stufe gehören natürlich auch: atmen, verdauen, Nahrung ausscheiden etc.) Damit war er voll ausgelastet, so daß er gar keine Energien frei hatte, mehr anstreben zu wollen.
Für die tägliche Praxis bedeutet dies:
Solange jemand dieses Fundament noch nicht erarbeitet hat, interessieren ihn die Bedürfnisse der nächsten Stufen nicht.
Deswegen sollte man:
einen gerade erschöpften Menschen,
einen müden, hungrigen Partner oder Freund oder Gast, jemand, der Kopf- oder Magenschmerzen hat, nicht gerade jetzt zur Kommunikation zwingen wollen. Erst wenn das Fundament abgesichert ist (nach dem Essen oder einer Ruhepause), hat er wieder Energien für die Kommunikation übrig.
Die 2. Stufe
Langsam, aber sicher verbesserten sich die Jagdbedingungen des Menschen; man entwickelte Waffen und jagte in Gruppen.
Der Mensch hatte also mehr Zeit zur Verfügung und konnte sich um die 2. Stufe kümmern: Er befestigte seine Höhlen und baute Burgen. Heute kaufen wir Eigentumswohnungen und Lebensversicherungen, um dieses Bedürfnis zu befriedigen. (Hierbei geht es um das Gefühl der »inneren Sicherheit«, das heißt um das Gefühl des Sich-sicher-Fühlens. Der eine erreicht dies durch finanzielle Absicherung, der andere durch Heirat, ein dritter durch eine Beamtenposition. Ein Defizit an »innerer Sicherheit« führt zu Kompensationsversuchen in der 4. Stufe.)
Für die tägliche Praxis bedeutet dies:
Jemand, dessen Sicherheit bedroht ist, wird sich nur um die Sicherheitsbedürfnisse kümmern! Erst wenn die Stufe 2 wieder abgesichert ist, kann er sich wieder auf die Bedürfnisse der höheren Stufen konzentrieren.
Wenn sich also ein Mensch um seine Sicherheit sorgt, weil er seinen Arbeitsplatz,
seine Unterkunft,
sein Einkommen,
seine Ersparnisse
gefährdet sieht, können Sie mit dieser Person erst dann über andere Dinge reden, wenn die 2. Stufe abgesichert ist oder zu sein scheint. Deswegen sind Bürger, die sich um ihre persönliche Sicherheit sorgen, den rationalen Argumenten einer Partei so wenig zugänglich. Für sie gilt dann nur die eine Frage: »Werden diese Politiker meine Sicherheit garantieren können?« (Vergleichen Sie die Parole: Keine Experimente! Experimente könnten ja die bestehende Sicherheit gefährden!)
Somit gewährleisten die ersten beiden Stufen das physische Überleben. Solange dieses Bedürfnis-Fundament besteht, ist ein einfacher Organismus vor dem Tod sicherer.
Nun ist der Mensch jedoch kein einfacher Organismus mehr. Je komplizierter ein Lebewesen, desto differenzierter ist sein Nervensystem. Und je weiter entwickelt das Nervensystem ist, desto mehr Bedürfnisse muß das Lebewesen erfüllen, um sich wohl zu fühlen.
Die 3. Stufe
Nachdem das Nahrungsproblem gelöst war (bessere Jagdbedingungen und Ackerbau) und der Mensch sich abgesichert hatte, begann er, sich in Stufe 3 zu begeben: Plötzlich war Mensch nicht mehr gleich Mensch. Plötzlich bevorzugte er einige bestimmte Menschen: Er organisierte sich in Familien, Sippen, Stämmen und Völkerschaften. Er wollte einer Gruppe angehören und sich damit von Nichtmitgliedern dieser Gruppe absondern.
Wir nennen dies das soziale Bedürfnis.
Heute äußert sich die Befriedigung über Zugehörigkeit in: meineFamilie, meine Firma, meine Freunde, mein Club, mein Land, meineGlaubensbrüder etc.
Für die tägliche Praxis bedeutet dies:
Wann immer uns jemand mit Stolz, Freude oder Genugtuung darüber berichtet, der einen oder anderen Gruppe anzugehören, fühlt er sich sicher und gut.
Denn die Befriedigung der Bedürfnisse bewirkt, daß wir uns OK fühlen, weil unser SWG erhalten bleibt.
Wenn Sie jedoch Zweifel an der Güte seiner Gruppe äußern, gefährden Sie seine Sicherheit in der 3. Stufe. Je schwerer Ihr Angriff auf seine Gruppe ist, desto weniger ist der andere in der Lage, gut zu kommunizieren.
Jetzt gilt wieder die Regel: Vorrangig ist die Absicherung der gefährdeten Bedürfnis-Befriedigung! Bis hierher ist die ganze Entwicklung noch »einfach« zu nennen: Jedes primitive Naturvolk hat zumindest die 3. Stufe erreicht.
Aber manche Gruppen haben sich weiterentwickelt und haben somit die Bedürfnisse der 4. Stufe erschlossen.
Wieder sehen wir: Je weiter entwickelt ein Organismus (oder eine Gruppe von Lebewesen) ist, desto differenzierter werden auch die Bedürfnisse.
Die 4. Stufe
Ein Naturforscher und Soziologe berichtete über seine Reisen im australischen Buschland.
Bei dem einen Zwergvolk, sagte er, gäbe es das Wort Ich überhaupt nicht. Man stellt sich vor, indem man sagt: »Wir von dem Stamme der Unter-jenen-Bäumen-Lebenden.« In diesem Volk, bemerkte er, gäbe es keinerlei Statusunterschiede. Alle sind »gleich«, keiner »gleicher«, das heißt, dieses Volk lebt auf den Stufen 1 bis 3.
Es hat die 4. Stufe noch nicht entdeckt, im Gegensatz zu einem anderen Zwergvolk, das er beschreibt: Der Häuptling trägt einen bemalten Ast als Zeichen seiner Würde.
Allerdings muß er diesen Ast jeden »Mond« einmal verteidigen. Wer immer ihn im Zweikampf erbeutet, ist so lange Häuptling, bis man ihm den »Statusstab« wieder abnimmt. Das heißt: Erstens, Häuptling ist immer nur der derzeitig stärkste Mann im Dorf. Zweitens: Status ist mit körperlicher Kraft verbunden.
Wie Sie wissen, kann bei uns, die wir die Bedürfnisse der 4. Stufe wesentlich weiterentwickelt haben, ein Titel, Geld oder die Tatsache, daß niemand uns unterbricht, wenn wir sprechen, zum Statussymbol werden.
Also nennen wir diese Bedürfnis-Gruppe die Ich-Bedürfnisse, denn ihre Befriedigung trägt dazu bei, unser Ich zu befestigen, sei es durchStatus, Macht oder Geltung – immer handelt es sich darum, daß unsere Mitmenschen uns Anerkennung zeigen.
Da die 3. und 4. Stufe mit einer psychologischen Sicherheit verbunden sind und da auch diese Bedürfnisse lebensnotwendig geworden sind, sprechen wir hier vom psychologischen Überleben! Zum Überleben gehört aber Anerkennung. Sie ist so wesentlich, daß wir uns mit ihr besonders auseinandersetzen müssen.